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Ein X für ein U

Ein seltsamer Titel für einen Artikel der sich mit dem Stand der Dinge von aktuellen Desktops befassen wollte. UX (User Experience Design) ist den meisten Lesern ein Begriff, zumindest im Zusammenhang mit den älteren Abkürzungen UI (User Interface) oder GUI (Graphical User Interface). Was es mit der seltsamen Abkürzung XU auf sich hat, wird im Verlauf dieses Artikel klarwerden.

Vor 8 Jahren habe ich im FreiesMagazin einen Bericht über die Anfänge des Desktops, seine heutige Leere und die Möglichkeiten diese Leere zu füllen geschrieben. Es war geplant, diesen Text auch dem Thema Desktop zu widmen, jedoch mit einer breiteren Perspektive. Sicher, der Desktop (ich meine den Hintergrund) verkommt mehr und mehr zur Wüste und widerspiegelt eher die Clean-Desktop-Policy in heutigen Unternehmen, als dass er der Metapher des Schreibtischs gerecht wird auf dem sich alle Dinge befinden die für die tägliche Arbeit nötig sind. Kürzlich hat das Gnome Team angekündigt die Icons von der Oberfläche zu verbannen. Dies hat jedoch mehr einen technischen als einen gestalterischen Grund; die Leere wird damit grösser und der Desktop leerer.

Gnome-Shell

Gnome Shell


Bevor ich zum eigentlichen Kern komme, möchte ich trotzdem kurz mein Empfinden zur aktuellen Desktop Situation mitteilen. Seit den 80er Jahren und den ersten graphischen Benutzeroberflächen (Xerox Star), hat sich beim Darstellungs- und Bedienparadigma kaum etwas verändert. Es gab den Wechsel von Action/Object (copy file) zu Object/Action (file open), Microsoft führte für Windows 98 den 'Active Desktop' als Verkaufsargument ins Felde (war gut gedacht aber schlecht gemacht), dann kamen die Mobile Desktops (iOS, Android), die aber mehr von der Fingerbedienbarkeit als von guten Ideen getrieben waren. Eine Ausnahme bildete Ubuntu-Touch mit den Scopes und dem App-Flicking (ist leider Geschichte). Erwähnenswert finde ich das Information Tiling Konzept auf dem Windows Phone, was Microsoft aber nicht richtig verstanden hat. Die Idee von skalierenden App-Tiles mit dynamisch angepasstem Informationsgehalt und Funktionsleveln halte ich für sehr gut; nur ist es leider nie passiert, auch nicht in Windows 10.

Windows Tiles

Windows Tiles

Bei den modernen Desktops herrscht praktisch Feature Parity. Windows 10, MacOS High Sierra, Gnome-Shell und KDE Plasma bieten alle ein grafisch abgestimmtes Erscheinungsbild mit ähnlichen UX Funktionen wie: Dock, Notification Area, App Overview, Software Store, Workspaces, Dashes und die kommerziellen dazu noch Voice Control (Siri, Cortana, Ok Google). Dann gibt es die Altvorderen wie Mate, Xfce, Lxde, Cinnamon usw. die wenige Innovation bringen, sondern an bewährten Bedienkonzepten festhalten. Nicht zu vergessen die Tiling Manager (i3, ratpoison, xmonad, awesome, herbstluft), die ich eher zu den Exoten zähle.

Awesome Tiling Window Manager

Zusammenfassen möchte ich die klassische Desktop Situation - egal ob auf dem PC, dem Smartphone oder dem Tablet - mit: "im Westen nichts Neues". Informationen werden zumeist in Fenstern dargestellt oder via Audio ausgegeben. Die Bedienung erfolgt mit einem Zeigeinstrument (Maus, Finger) oder mit der eigenen Stimme.

Die historische Betrachtung aus der Vogelperspektive führt uns näher zum geheimnisvollen 'XU'. Als Beispiel soll das Thema 'Textbearbeitung' dienen. Betrachtet man die User Experience über die Menschheitsgeschichte hinweg, so ergibt sich folgendes Bild:

Aus der Frühzeit sind Höhlenmalereien bekannt. Die Menschen dieser Zeit hatten die Schrift noch nicht erfunden und bedienten sich der Malerei mit Naturfarben auf Stein um Geschichten und Erfahrungen zu konservieren. Ein anderes Mittel zur Text- oder Gedankenverarbeitung war das Weitererzählen an der heimischen Feuerstelle.

Vor ca. 5000 Jahren wurde dann die Schrift im Mittleren Osten erfunden (Ägypten, Mesopotamien). Als Desktop dienten Wände, Steine und Statuen aber auch das Papyrus; sozusagen die mobile Variante der Felswand. Die Erfindung der Schrift stellte einen Paradigmenwechsel dar, weil die gegenständliche Malerei auf das Level der abstrakten Schrift gehoben wurde.

Hieroglyphen

Die Verfahren wurden im Mittelalter durch den Buchdruck verbessert und einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Prinzipiell änderte sich dadurch jedoch nicht viel; es war immer noch Text auf einem physischen Medium (Papier, Buch). Die User Experience wurde durch Schreibgeräte (Feder, Griffel) und das Medium Papier zugänglicher, sowohl in der Tiefe (einfacher Umgang), als auch in der Breite (öffentliche Zugänglichkeit). Das Verfahren des Buchdrucks hatte keinen direkten Einfluss auf das Erstellen der Texte (UX).

In der Neuzeit erfolgte der nächste wichtige Schritt, das Loslösen vom physischen Medium durch den Textautomaten (Computer) und die Texteingabe (Tastatur statt Stift). Bis hierher war der User immer noch der Empfänger der Experience; der Mensch als handelndes und bestimmendes Organ.

Was nun folgt, wird als 'Technologische Singularität' bezeichnet. Man kann es sich als Überkreuzen oder Schneiden zweier Linien vorstellen; oder als Umkehren des Paradigmas. Wissenschaftlich vermutlich nicht korrekt, würde ich dieses Phänomen als Wechsel von Ursache und Wirkung beschreiben. Auf die 'User Experience' (UX) folgt das 'Experience the User': die Technik (Fels, Papier, Stift) erfährt oder bestimmt den Anwender.

Hierfür gibt es diverse Beispiele:
- das Navigationssystem bedient (im Sinne von 'steuert') den Fahrer
- Alexa steuert den Terminplan des Angestellten
- Filterblasen steuern die Informiertheit des Lesers
- Online-Shops steuern das Kaufverhalten des Konsumenten
- Deepfakes steuern die Realitätswahrnehmung des Zeitungslesers, Fernsehers, Hörers
- das Suchergebnis bestimmt die nächsten Handlungsschritte des Bedieners

Natürlich bedienen wir immer noch ein User Interface und glauben etwas zu erfahren (im Sinne von beeinflussen, steuern, kontrollieren, die Bedienung als angenehm empfinden). Tatsächlich fand zum Zeitpunkt der Singularität eine Umkehr der Verhältnisse statt. Der 'Desktop' erfährt uns indem er unser Verhalten studiert und Informationen über uns sammelt (Karl Klammer weiss was du willst und [ausser Canonical :] tracken viele unser Verhalten auf dem Desktop oder dem Webbrowser). Vordergründig dient dies der Verbesserung der User Experience: 'Alexa, was soll ich heute anziehen?' Alexa kennt das Wetter, deinen Kleiderschrank, deine heutigen Termine, deine Präferenzen bei der Kleiderwahl und was bei Zalando gerade im Angebot ist. Alexa kennt dich besser als du dich selbst. Ausserdem sollte Alexa an deiner statt für dich wählen gehen, weil 'sie' deine politische Ausrichtung wesentlich besser in die Waagschale werfen kann als du das könntest, emotionsgeladen wie du am Tag der Wahl bist.

Künstliche Intelligenz


Eigentlich musst du überhaupt nichts mehr bedienen. Du musst nicht auf Felsen malen, keine Schriftzeichen auf Papyrus kritzeln und keine Blogtexte in den Editor tippen. Du bist nie 'du selbst' zu einem Zeitpunkt. Mycroft (ab Mark II) ist mehr von dir selbst, weil er die Summe deiner Experience abbildet. Da du nur eine Ansammlung von biochemischen Algorithmen bist, können höher entwickelte Algorithmen dein Dasein locker übernehmen. Lehne dich zurück und überlasse deine Existenz denen, die es besser können. Lass dich von den Algorithmen deiner Wahl (wenn es gut läuft) repräsentieren.

Der ehemalige User mag sich nun fragen, was zu tun ist, den lieben langen Tag lang. Du könntest zur Arbeit fahren - Stopp, leider nicht, weil deine Arbeitskraft nicht mehr gefragt ist; sie wird längst von Algorithmen erledigt. Ok, ist doch super, dann werde ich kreativ und male endlich die Bilder, die ich schon immer malen wollte. Solange du in deiner Zelle bleibst und niemanden mit deiner Kreativität belästigst, ist das in Ordnung. Die öffentliche Kultur wird aber von TCUs (Tensor Processing Units) und neuromorphen Prozessoren mehr als ausreichend bedient. 'Ich könnte mich im Bereich Zuneigung und Pflege beschäftigen', denkst du und gehst beim nächstgelegenen Altersheim vorbei. Carebot IV erklärt dir im Foyer, welche versicherungsrechtlichen Voraussetzungen du erfüllen müsstest um auch nur an Altenpflege zu denken. Du kennst die Alten eben nicht so gut wie ihr Alter Ego namens Carebot IV.

Langsam wird es dir zu dumm; du willst in den Krieg ziehen. Menschen wurden seit Jahrtausenden als Kanonenfutter gebraucht. Leider erfüllst du auch hier nicht die Mindestqualifikation als Virus, Wurm oder Drohne um im Gefecht irgendetwas auszurichten. Na gut, dann gehe ich eben wählen (ups, das hatten wir schon).

Du resümierst: es gibt keine Arbeit für mich, es gibt keinen Krieg für mich, es gibt keine soziale Aufgabe für mich, es gibt kulturell nichts zu tun, was jemanden interessieren könnte. Letztendlich entscheidest du dich für das Dahinvegetieren und begreifst, dass du dich selbst abgeschafft hast. Das XU war nur ein Zwischenschritt um das Nötigste von dir abzugreifen.

Wem das hier alles zu schnell ging, darf gerne beim NerdZoom Podcast vorbeihören und anschliessend mitdiskutieren.

Schlussbemerkungen:

Demnächst auch wieder auf NerdZoom!